Sutra I. 4. vṛtti sārūpyam-itaratra
Zu anderer Zeit (wenn der Seher nicht in seiner eigenen Natur verweilt) identifiziert sich der Seher weiterhin mit den Gedankenprozessen seines Geistes
Sutra I. 5. vṛttayaḥ pañcatayyaḥ kliṣṭākliṣṭāḥ
Es gibt fünf Arten von gedanklichen Prozessen die im Geist passieren, manche schmerzvoll, andere nicht
Sutra I. 6. pramāṇa viparyaya vikalpa nidrā smṛtayaḥ
Die 5 Arten von Vrittis (mentale Muster / Gedankenwellen) sind wahrhaftiges Wissen, Fehlvorstellung, Verbale Täuschung, Schlaf und Erinnerung
Sutra I. 7. pratyakṣa-anumāna-āgamāḥ pramāṇāni
Die Ursprünge für wahrhaftiges Wissen sind: unmittelbare direkte Wahrnehmung, Schlussfolgerung und schriftliches Zeugnis
Sutra I. 8. viparyayo mithyā-jñānam-atadrūpa pratiṣṭham
Zu unrichtigem Wissen (Fehlvorstellungen) kommt es, wenn die wahre Natur eines Objekts nicht erkannt wurde
Sutra I. 9. śabda-jñāna-anupātī vastu-śūnyo vikalpaḥ
Zu verbaler Selbsttäuschung und Irreführung kommt es, wenn Wörter nicht in der Realität gründen
Sutra I. 10. abhāva-pratyaya-ālambanā tamo-vṛttir-nidra
Gedanken (-wellen) über Nichts sind… Schlaf!
Sutra I. 11. anu-bhūta-viṣaya-asaṁpramoṣaḥ smṛtiḥ
Erinnerung entsteht wenn gedankliche Abläufe von früher erfahrenen Objekten nicht vergessen sind
Die folgenden Sutras behandeln die „gewöhnlichen“ Gedankenprozesse unseres Geistes, teilen Sie in fünf verschiedene Arten von gedanklichen Aktivitäten ein und beschreiben diese dann. Da Yoga eine konstruktivistische Philosophie ist, sind diese Sutras wichtig, weil sie nicht nur beschreiben wie laut der yogischen Vorstellung unser Geist funktioniert, sondern auch wie unsere Welt in der wir leben aufgebaut ist und funktioniert, die wir durch unseren Geist erschaffen.
Sutra vier betont, dass außer jenen besonderen Momenten wo die Aktivitäten des Geistes still sind, wir uns mit den Aktivitäten ganz selbstverständlich und unvermeidlich identifizieren. Sutra 5 definiert die geistigen Aktivitäten und teilt sie in fünf verschiedene Arten ein.
Wer ist „Ich“? Im Moment von „Samadhi“, dem Moment, wo die Gedanken still sind, kann ich mir diesem „Wahren Ich“ vielleicht gewahr werden. Sobald „ich“ aber darüber nachdenke, identifiziere ich mich unweigerlich nicht mehr mit dem reinen Bewusstsein des Gewahrseins, sondern nur noch mit meiner gedanklichen Projektion davon. – Analog zu dem taoistischen Spruch: „Das Tao über das man sprechen kann, ist nicht das Tao.“, ist auch jenes „Ich“ über das ich sprechen (und denken) kann immer nur eine Projektion meines Geistes.
Was heißt „sich identifizieren“? Was kommt uns als allererstes in den Sinn wenn uns jemand fragt: „Wer bist du?“ – Ich bin ein Yogalehrer, Vater / Mutter, jemand mit einem Namen, etc. Dies alles sind jedoch veränderliche Dinge, die nicht immer so waren. Es ist nichts Schlechtes an der Identifikation, es ist nur wichtig im Hinterkopf zu behalten, dass dies nicht unsere „wahre“ Natur ist. Wer ist „ich“ wenn ich schlafe? Es klingt absurd zu sagen ich sein jemand anders, wenn ich schlafe. Doch alles was wir normalerweise meinen wenn wir die Frage beantworten „Wer bin ich?“ hat für unser schlafendes Ich keine Bedeutung. Der Unterschied ist, dass wir uns in einem anderen Zustand befinden, hervorgerufen durch andere geistige Aktivitäten, einem anderen Bewusstseinszustand.
Jeder Gedanke, jede geistige Aktivität bindet uns an diese Identifikationen, weil wir sie brauchen um unsere Erfahrungen in sinnvoller Weise zu ordnen. So ist auch ein Gedanke wie: „Oh, es schneit“, ein Gedanke der uns an eine Identifikation bindet, weil es jemanden braucht der den Schnee wahrnimmt und wir zum Schnee eine Assoziation haben, eine gelernte Reaktion und ein Urteil ob wir diesen gut oder schlecht finden und so ruft der harmlose Gedanke eine Kette in unseren Geist und setzt uns in Bewegung, verursacht eine Emotion.
Geistige Eindrücke führen zu geistiger Aktivität (Vrittis), diese führen zu Bewertungen und Emotionen, setzen neue Eindrücke und geistige Aktivitäten in Gang, diese werden über die Zeit zu Gewohnheiten und Mustern (Samskaras) und diese sind letzten Endes die Basis für das was Yoga das „Karma“ nennt. In der yogischen Vorstellung sind es diese tiefen Eindrücke die sich zu einem nächsten Leben manifestieren. Wenn es keine solche Eindrücke mehr gibt, dann gibt es keine nächste Geburt, weil kein Bedarf mehr vorhanden ist, man spricht dann von einer „freien Seele“ (Jeevan Mukta).
Aus Sutra 1.5. erfahren wir, dass es fünf Arten der geistigen Aktivität / Zustände gibt und dass manche davon „schmerzvoller“ Natur sind, andere nicht. Dieses „schmerzvoll“ bedeutet keinen körperlichen Schmerz, sondern in die geistige Ebene übersetzt soviel wie „verhangen und verklärt“ oder eben nicht.
Wie Sutra 1.6. erörtert sind die fünf verschiedenen Zustände, die mit den Arten der geistigen Aktivität assoziiert sind: Wahrhaftes Wissen, Fehlvorstellungen, Wissen aus Hörensagen, (traumloser) Schlaf und Erinnerung
Für uns klingen diese fünf Zustände vielleicht etwas eigenartig, aber das ist zum einen der Übersetzung geschuldet, die aus einer völlig anderen Zeit und Kulturkreis stammt und zudem einer ungewohnten Herangehensweise im Analysieren unserer geistigen Vorgänge. Gemeint ist, dass bestimmte geistige Vorgänge unseren Geist in einen Zustand führen. Wenn wir unsere Gedanken beispielswiese auf „Wahrem Wissen“ gründen, so wird uns das in den entsprechenden Zustand führen.
Die nachfolgenden Sutras gehen auf diese Zustände detaillierter ein.
Sutra 1.7. – „Pramanas“ / Wahres Wissen
In einer Welt nach der yogischen Philosophie – der reinen Vorstellung und Projektion des Geistes – ist es sehr schwer „Wahrheit“ zu finden. Die unterschiedlichen Denkschulen des Yoga und im Hinduismus akzeptieren deshalb verschiedene Methoden um zu einer „Wahrheit“ zu gelangen. Vergleichbar mit dem, was wir im Westen als wissenschaftliche Methode haben, die wir mehrheitlich als Instrument zur Wahrheitsfindung anerkennen. Das „moderne“ Yoga des Patanjali definiert hier drei Methoden die alleine dazu geeignet sind „Wahrheit“ zu begründen, nämlich direkte Wahrnehmung, logische Ableitung und das Zeugnis aus einer heiligen Schrift.
Als Beispiel:
Direkte Wahrnehmung (Pratyaksa) – Ich sehe einen Baum, deshalb ist es wahr, dass hier ein Baum ist.
Logische Schlußfolgerung (Anumana) – Ich sehe ein Blätterdach in der Ferne, dort muss ein Baum sein.
Zeugnis aus einer Schrift oder von einem Lehrer (Agamah) – Der heilige Baum in der Schrift verbindet die drei Welten.
Diese Reduktion und Ausführung klingt simpel, ist aber problematisch. Wenn beispielsweise meine direkte Wahrnehmung getrübt ist, glaube ich zwar etwas direkt wahrgenommen zu haben, es stimmt aber nicht. Genauso mit Logik – es gibt nicht umsonst eine eigene Studienrichtung „Logik“, weil man kann sich auch in Pseudologik verlieren und auch Schriften und Lehrer liegen öfter falsch als richtig. Wir können heute nur erahnen was der Zweck dieser Sutra war, aber vermutlich ging es darum die Natur eines Diskurses zu begrenzen, was bei metaphysischen Diskussionen wahrscheinlich wichtig war.
Sutra I.8. Fehlvorstellungen, falsches Wissen weil das Wissen nicht in der wahren Natur eines Objekts gründet (Viparyaya)
Sutra I.8. greift das Problem auf, dass man kein wahres Wissen erlangen kann über ein Objekt dessen „wahre Natur“ man nicht kennt. Ein klassisches Beispiel das in der vedischen Literatur immer wieder vorkommt ist, dass man eine Schlange in der Dunkelheit für eine solche hält, wenn es Tag wird sieht man aber, dass es nur ein Seil war, dass am Boden lag. In den gängigen Kommentaren und Übersetzungen wird der Gedanke nicht weiter geführt, aber wir haben in den Sutras bereits von dem Problem gelernt unsere eigene wahre Natur zu erkennen. Wie sollen wir denn dann von außen heraus die wahre Natur eines Objekts wahrnehmen? Wir können das gar nicht, weil eben schon unsere Wahrnehmung begrenzt ist, aber auch unser Geist den wir für die Wahrnehmung brauchen und ein aktiver Geist ist gleichzeitig ein Geist der in geistige Aktivitäten verstrickt ist. Ohne geistige Aktivität verschwinden auch die Objekte des Geistes. – In dem Fall auch das Objekt das wir betrachten wollen.
Sutra I.9. Wissen aus Hörensagen (Vikalpa)
Sutra I.9. befasst sich mit Wissen, dass nicht auf faktischer Wahrnehmung beruht. Ich kann mir etwa eine Sage um eine Gestalt ausdenken und diese beschreiben und ihre Taten und Wunder, jemand anders kann darüber ein Buch schreiben und diese Geschichte verbreiten. Aber diese Geschichte hat keinen Halt in der Realität. Wenn zwei Menschen miteinander sprechen, dann reden sie von Objekten aus „ihrer Welt“ – jeder der Menschen lebt in der Welt seiner Geistesobjekte und es ist unmöglich ein Geistesobjekt aus einer Welt zu nehmen und in eine andere zu transferieren. Wir haben schlicht andere Assoziationen zu Formen, Farben, etc. selbst wenn zwei Menschen über eine Blume sprechen die direkt vor beiden auf dem Tisch steht, so nehmen beide die gleiche Blume unterschiedlich wahr. Wenn jetzt jemand von etwas erzählt, das die andere Person nicht selbst wahrgenommen hat, dann basiert dieses Wissen über das Objekt auf Hörensagen.
Sutra. I.10. (Traumloser) Schlaf (Nidra)
Nidra bezeichnet den Zustand des traumlosen Schlafes, welchen jeder kennt, aber niemand „erfahren“ hat, weil es eben nichts darin zu erfahren gibt. Dieser Zustand ist sehr wichtig, weil er benutzt werden kann um den Unterschied zu verdeutlichen zwischen dem Idealzustand von Samadhi den ein Yogi erreichen möchte, das Stillwerden lassen der gedanklichen Vorgänge bei Aufmerksamkeit und der völligen Abwesenheit von aktiven Vorgängen und Aufmerksamkeit im traumlosen Schlaf. Auch wenn der Zustand ohne „Erfahrung“ ist, zumindest ohne bewusste, so ist es doch ein Zustand und eine Aktivität des Geistes.
Sutra I.11. Erinnerung (Smriti)
Erinnerung ist ein wichtiger Zustand, man versetzt das Bewusstsein in die „Vergangenheit“. – Die Erinnerung ist aber nicht wirklich die Vergangenheit, sondern die Erinnerung an eine Vergangenheit, eine verzerrte Projektion. So, wie wir uns die „Zukunft“ vorstellen, das ist eine Projektion die wir aus unserer Erinnerung, einer erinnerten Vergangenheit, heraus erschaffen und die wir dann herbeisehen oder fürchten, aber gewiss ist nur, dass sie nie so wie wir sie uns vorstellten eintreten kann. Die Fähigkeit zu erinnern und zu projizieren ist sehr wichtig, man muss sich nur der Natur des Vorgangs bewusst sein um den potentiellen „Schaden“ abzuwenden der daraus entstehen kann, wenn man sich zu sehr mit diesem Zustand identifiziert. All unsere Ängste und Sorgen, Wünsche und Träume verbergen sich in unserer Fähigkeit uns in der Zeit zu projizieren. Das ist wichtig um uns vor Gefahr zu schützen, um uns zu erlauben unser Leben planen zu können. Es kann uns aber auch unnötig einschränken und das Leben unnötig erschweren, wenn wir uns nicht im Hinterkopf behalten, dass nicht wirklich passiert ist was wir erinnern, es war anders und vielfältiger und andere teilen nicht unsere Erinnerung, sie haben ihre eigene. Erinnerungen verändern sich mit der Zeit auch! Es wird nie genau eintreten was wir uns vorstellen, die tatsächliche Erfahrung im Moment die wir von Moment zu Moment im Strahl des Bewusstseins erleben wenn wir präsent sind ist eine andere als das Bewusstsein der Vorstellung und des Träumens. Das Erinnern hat auch den Nachteil, dass es das präsent sein verhindert, weil es das Bewusstsein in einen anderen Zustand versetzt.