Yoga Sutra 1.3 Die wahre Natur

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von Franz

Yoga Lehrer

Tadā draṣṭūḥ svarūpe’vasthānam

dann verweilt der Seher in seiner wahren Natur


Diese Sutra bezieht sich auf die vorhergehende mit dem „dann“. Dann … wenn die Aktivitäten des Geistes zur Ruhe gebracht wurden … verweilt der Seher in seiner wahren Natur.

Wer ist dieser „Seher“? Wieso schreibt Patanjali nicht „die Yogini“ oder „die Praktizierende“?

Im Wort „Seher“ steckt drinnen, das jemand etwas betrachtet. Wenn alle Aktivitäten des Geistes zur Ruhe kommen, dann gibt es aber nicht nur niemanden der sich mit einem „Seher“ identifizieren könnte, es gibt auch kein „Sehen“ weil dieser Vorgang geistige Aktivität erfordert.

Patanjali schreibt aber „Seher“, weil dies ein Hinweis darauf ist, dass es doch etwas zu „sehen“ – wahrzunehmen / zu erfahren gibt, wenn die Aktivitäten des Geistes zur Ruhe kommen.

Ich möchte zum klareren Verständnis darauf eingehen, was mit „Seher“ und seiner „wahren Natur“ nicht gemeint sein kann. Sobald geistige Aktivität da ist, dann ist das Ego (Ahamkara) aktiv und dieses sorgt für die Identifizierung mit einem materiellen „Ich“. Ich sehe zum Beispiel einen Baum. – Da gibt es ein Ich, meine Sinne nehmen etwas wahr, aufgrund meiner Erfahrung interpretiere ich das als Baum. Um dieses Satz: „Ich sehe einen Baum“ formulieren zu können, muss ich mich mit einer Person identifizieren, die einen Körper hat oder gar ein Körper ist und über das Wissen verfügt, was ein Baum ist und den Glauben, dass das Bild das auf der Netzhaut gezeigt wird die „Realität“ ist, eine weitere Identifikation, weil sich diese Person mit der ich mich identifiziere in der Realität bewegt.

Wer bin „Ich“? – Bin ich mein Körper? Mein Körper war gestern ein anderer als heute, mit jedem Essen und Trinken verändere ich die Zusammensetzung. In sieben Jahren wird keine einzige Zelle mehr am Leben sein, die meinen Körper heute ausmacht. War ich vor sieben Jahren jemand anders? War ich vor einer Sekunde jemand anders? Es ist klar, dass ich „anders“ war in der Vergangenheit, egal wie kurz der Zeitpunkt ist den ich annehme. Unser Körper ist ein Veränderungsprozess an dem andere Lebewesen teilhaben.

Als Exkurs, Ken Wilber bezeichnet dies als „Holarchie“. – Ein Holon ist ein Teil eines Ganzen der selbst „ganz“ ist. Wir bestehen selbst aus Lebewesen die eventuell über ein Bewusstsein verfügen, auf jeden Fall aber eigene Interessen verfolgen und sei es nur das Überleben. Wir wissen genauso wenig wie die Zellen in meinem Körper nicht wissen, dass sie Teil von „mir“ sind, ob wir nicht Teil von einem größeren, umfassenderen Bewusstsein sind. Wer dazu mehr erfahren möchte kann bei Ken Wilber nachlesen oder sich auf Wikipedia ein erstes Bild machen.

Wenn es nicht sinnvoll ist unser „Ich“ mit dem Körper gleichzusetzen, weil sich dieser stetig wandelt und nicht zur Gänze unser Ich einschließt, womit dann? Unser Geist? Unser Geist und die geistigen Vorgänge laden dazu ein sich zu identifizieren, denn unser Ego (Ahamkara) ist an unserer Selbsterhaltung interessiert und es ist dafür sehr hilfreich, wenn wir uns mit unserem Körper und Geist identifizieren. Aber auch wenn unser Geist sehr viel subtiler ist als unser Körper, auch er ist stetem Wandel ausgesetzt. Selbst meine Erinnerungen verändern sich! – Manche gehen vergessen, andere verändern sich einfach so und vor ein paar Jahren habe ich noch geglaubt, dass etwas so und so passierte, heute bin ich der Meinung es war ganz anders. Mein Charakter verändert sich, meine geistigen Fähigkeiten verändern sich vom Kind, Jugendlichen, Erwachsenen und Greis. Es gibt nichts Stetiges in meinen Gedanken außer vielleicht den Fluss der Gedanken selbst. Wir glauben jeden unserer Gedanken, auch wenn wir wissen, dass wir uns zumindest gelegentlich irren. Wenn wir etwas betrachten, identifizieren wir uns damit. Wenn wir eine traurige Szene in einem Kinofilm sehen, werden wir oft selbst berührt, obwohl wir wissen, dass es nur ein Film ist.

Genauso wie wir einen Film sehen und uns mit einer fiktiven Person identifizieren, so identifizieren wir uns mit dem was wir für unser „Ich“ halten. Das ist nicht per se etwas Schlechtes, das ist ein Mechanismus der uns hilft am Leben zu bleiben!

Das Problem dabei ist nur, dass dieser Mechanismus uns den Blick versperrt auf unsere wahre Natur. Wir können uns gar nicht vorstellen, dass wir etwas wahrnehmen und „erleben“ wenn die Vorgänge unseres Geistes für einen Moment still werden.

Dieser Mechanismus des (falschen) Identifizierens ist im Gang sobald Aktivität in unserem Geist passiert. Es gilt nicht umsonst als die höchste Kunst etwas zu betrachten ohne zu bewerten. Nur wenn die Aktivität unseres Geistes still wird, so sagt Patanjali, und die Wellen der geistigen Aktivität (Vrittis) still sind, und wir trotzdem wach und aufmerksam sind, dann werden wir wie ein perfekter Spiegel und nehmen unsere wahre Natur wahr, das „ewig betrachtende Bewusstsein“, der Seher.

Es gibt verschiedene Ansätze in den yogischen Philosophien zu erklären wer oder was wir „wirklich“ sind. Man muss sich aber vor Auge halten, dass dies nur Analogien sein können, weil wir mit unserem Geist ebendies per Definition nicht erfassen können.

(Advaita) Vedanta zum Beispiel sagt vereinfacht, dass es im Universum nur Eines gibt, das in verschiedenen Gestalten auftritt um sich selbst betrachten zu können. Brahma (das Eine „Alles“) schafft Atma (die Seele) die sich von Brahma getrennt fühlt, weil nur so sie die Möglichkeit hat Brahma anzusehen und aus allen Perspektiven zu betrachten. Sie ist aber in ihrer Essenz Brahma und nur temporär von Brahma getrennt.

Samkhya zum Beispiel kennt Purusha, das reine Bewusstsein und Prakriti, die reine Materie – beides als Prinzipien, die niemals getrennt voneinander in der materiellen Welt existieren können. Manifestiert drückt sich Purusha und Prakriti als die drei Gunas aus – Energien die überall im manifesten Universum wirken – (Sattva, Rajas und Tamas) – und das Universum „weben“. Purusha, das Bewusstsein beleuchtet quasi Prakriti, die Materie. Die Natur des „Sehers“ ist Purusha, der in der Stille der gedanklichen Aktivität erkennt, mit Prakriti in der manifesten Realität verwoben zu sein, aber dessen wahre Natur eben reines Bewusstsein ist. Diese Vorstellung ist übrigens der Grund wieso man die Erkenntnisse der modernen Quantenphysik mit jenen der yogischen Vorstellen vergleicht. – Ohne Beobachter werden Quantenzustände nicht determiniert, vereinfacht: die Realität „passiert“ einfach nicht, wenn niemand hinsieht. Im Yoga gibt es keine Manifestation von Materie ohne Bewusstsein.

Den Zustand der fokussierten Konzentration über eine längere Zeit nennt man Nirbija Samadhi. Wenn die Energie auf die eigene innere Betrachterin fokussiert wird, hat Purusha nichts mehr zu erleuchten außer sich selbst; man ruht in seiner wahren Natur: reines Bewusstsein ohne „Verschmutzung“ durch Gedanken und Aktivitäten des Geistes (Chitta-Vrittis).

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Barbara

Yogalehrerin

Barbara ist nicht “nur” Yogalehrerin, sondern Apothekerin der Adler Apotheke und studierte Ayurveda-Medizin im Ayurvedazentrum Birstein in Deutschland. So verbindet sie ihr tiefes Wissen zum Thema Gesundheit und Ernährung mit Yoga. Barbara entdeckte ihre Yogapassion 2005 und verschrieb sich seit 2007 dem körperlich herausfordernden Ashtanga Yoga. Sie absolvierte Ihre 500 Stunden Yogalehrerausbildung bei Horst Rinnerberger in Wien und schloss diese 2017 ab. Sie absolvierte ebenfalls eine Ausbildung im Kinderyoga 2017 und macht das mit ausgelassener Freude. Ihre Leidenschaft für Ashtanga Yoga brachte sie zu Workshops u.a. nach Italien, Deutschland, Goa und Bali, wo sie mit bedeutenden Lehrern üben und von ihnen lernen durfte. Neben Yoga und Ayurveda beschäftigt sich Barbara vor allem mit dem großen Thema “Gesund bleiben”: Schüßler Salze, Bachblüten, vernünftige Bewegung, Ernährung und vieles mehr. Sie hat ihre Kindheit in Zell am See verbracht und zog dann zum Studium und später zum Arbeiten nach Wien, wo sie Franz kennen lernte. Sie leben jetzt gemeinsam in Zell, wo sie die Adler Apotheke leitet.

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Franz begann mit Yoga 2002, weil er nach seinem zweiten Bandscheibenvorfall genug von Rückenschmerzen hatte! Nach etwa einem halben Jahr konnte er wieder “normal” schlafen und seither blieb er beim Yoga. Nach und nach hat es sein ganzes Leben verändert. Zu den Asanas kam ein Interesse für die Philosophie sowie für Pranayama (Atemübungen, 2016 Fortbildung beim Kaivalyadam Institut mit Sudhir Tiwari) und Meditation. 2009 absolvierte er in Indien seine Ausbildung zum Sivananda Yogalehrer (200 Stunden) und unterrichtete in Folge bis 2011. 2017 schloss er eine weitere 500 Stunden Yogalehrer-Ausbildung bei Horst Rinnerberger in Wien ab. Neben seinen beiden Yogalehrer-Ausbildungen hat er viele Monate in Indien, Indonesien und auch Deutschland auf Fortbildungen und in Ashrams verbracht. Franz führt das Nara Yoga Studio und kümmert sich um die Administration der Adler Apotheke.

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